»Was ist Kunst und was ist Pornographie?« Die Zeitschriften ›Lachendes Leben‹ (1925-1933) und ›Kokain‹ (1925) vor Gericht

Von Dr. Elias Kreuzmair

»Mich interessiert der damalige Obszönitäts-Prozeß Jänner 1927? [!] sehr, wo sie doch gegen die spießbürgerliche Reaktion in Lüneburg und Umgegend moralisch gesiegt haben, gelle!?«, schreibt eine Leserin an den Robert-Laurer-Verlag in Egestorf bei Hamburg. Der Brief, der mit Ilona-Onja-Xenia-Otty-Lou-von-Kügelgen unterschrieben ist und deren Schreiberin sich als »Eros-Romantik-Literatin! Stud. Philos.! « und »nebenbei Mutti!« bezeichnet, wird in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift ›Tempo – Magazin für Fortschritt und Kultur‹ aus dem Jahr 1927 abgedruckt. Er mag kurios wirken, ist aber ein interessanter Beleg für den Zusammenhang von Zensur und Popularisierung, der sich in den 1920er Jahren an verschiedener Stelle an der Frage nach der Grenzziehung zwischen Kunst und Pornographie entzündete.
 

Nacktheit als Verbrechen? Der Robert-Laurer-Verlag und seine Publikationen

Der Robert-Laurer-Verlag publizierte in den 1920er Jahren neben der eher kurzlebigen ›Tempo‹ zahlreiche andere wesentlich erfolgreichere Zeitschriften mit einem Schwerpunkt auf Lebensreform und Nacktkultur. Zu nennen sind u.a. ›Die Freude – Magazin für freie Lebensgestaltung‹, ›Licht-Land – Blätter für Körperkultur und Lebensreform‹ oder ›Lachendes Leben – Zeitschrift für gesunde Weltanschauung‹. Neben dem Verlag betrieb Robert Laurer in Egestorf eines der größten Freikörperkulturgelände der Zeit und gründete 1927 die Liga für freie Lebensgestaltung (LffL). Bei dem »Obszönitäts-Prozeß« handelt es sich um die auch als »Lüneburger Nacktkulturprozesse« bekannten Gerichtsverhandlungen (zur Nacktkultur in der Weimarer Republik vgl. Möhring 2004 u. Wedemeyer-Kolwe 2004). Nicht zum ersten Mal werden Publikationen des Robert-Laurer-Verlags angezeigt und in der Folge verboten. Laurer und der Chefredakteur der Zeitschrift ›Lachendes Leben‹, Walter Brauns, werden wegen der »gemeinschaftlichen Herausgabe unzüchtiger Schriften« verurteilt. Laurer und Brauns legen Einspruch ein und werden weitgehend freigesprochen. Später publiziert Laurer die Gerichtsprotokolle unter dem Titel ›Nacktheit als Verbrechen‹ als Buch (Laurer 1927).
 

Der zitierte Brief der selbst ernannten »Eros-Literatin« zeugt von der Popularität der Nacktkultur, der Gerichtsverhandlungen und schließlich der im Robert-Laurer-Verlag erscheinenden Zeitschriften selbst. Der Akt der Depopularisierung, deren Versuch die Zensur immer ist, führt zur Popularisierung. Das, was von vielen beachtet wird, das Populäre (Döring et.al. 2021), setzt sich in diesem Fall durch. Die Staatsanwaltschaft konnte nicht begründen, warum das Populäre nicht auch das juristisch Erlaubte sein sollte. Wie etwa auch in Kanonisierungsprozessen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Prozessen der Popularisierung und Depopularisierung (Werber/Penke 2024). Bedeutet im Fall der Kanonisierung die Popularisierung des einen Werks gleichzeitig die Depopularisierung anderer Werke, besteht hier eine zeitliche Abfolge: Auf den Versuch der Depopularisierung des Populären folgt dessen weitere Popularisierung durch diesen Versuch.
 

»Billigste« Unterhaltung: Die Wiener Literaturzeitschrift ›Kokain‹

Ähnlich wie ›Lachendes Leben‹ erging es auch der Wiener Zeitschrift ›Kokain. Eine moderne Revue‹. Wie die Publikation im Robert-Laurer-Verlag widmete sich die nur im Jahr 1925 bestehende ›Kokain‹ der Nacktkultur – jedoch in einem ganz anderen Sinn. Ihr Gegenstand waren nicht Sonnenanbetung, Lichtbäder und textilfreie Gymnastik, sondern erotische Literatur, die mit expliziten Zeichnungen illustriert wurde. In Stil und historischer Situierung recht unterschiedlich gelagert, kreisen die Texte in ›Kokain‹ meist um Ehebruch, Eifersucht und Mord inklusive expliziter Beschreibungen bis zum Moment kurz vor dem Akt. Dort regieren dann doch die Gedankenstriche. Einer der wenigen Texte, die nicht dieses Thema diskutieren, stammt vom heute bekanntesten Autor: Zur ersten Ausgabe steuerte Joseph Roth die Erzählung »Der Kolporteur« bei. Die Mission von ›Kokain‹ wird in ebenjener Ausgabe so beschrieben: »Unsere Revue hat die Bestimmung, Sie auf die einfachste und billigste, aber ausreichendste Weise zu unterhalten«. Gegenstand soll also das Niedere und Billige sein. Zwar wird das Populäre in den 1920er Jahren bereits als rein quantitative Größe gehandelt (Lickhardt 2024), aber im zitierten Vorwort adressiert die Redaktion das Populäre auf einer ›high/low‹-Skala.
 


Im Gegensatz zu den Zeitschriften des Robert-Laurer-Verlags ist ›Kokain‹ ein kleines Projekt. Die Zeitschrift erscheint im wohl eigens gegründete Kokain-Verlag und wird nach fünf Ausgaben wieder eingestellt. Verantwortet wird sie von Viktor Koch – zuständig für den Textteil – und Stephan Eggeler – zuständig für den Bildteil –, der die meisten Illustrationen selbst beisteuert. Dies spricht für ein geringes Budget für Aufträge an andere Künstler:innen. In ›Kokain‹ führen größtenteils Männer ihre Männerphantasien aus, der literarische Kontext sind die Wiener Moderne und expressionistische Strömungen. Politisch gesehen ist mit der 1918 gegründete Republik Österreich zwar auch eine Liberalisierungswelle zu beobachten. Diese fällt im katholischen Land jedoch moderater aus als in der Weimarer Republik. Dies gilt insbesondere in den in Bezug auf Nacktkultur offeneren protestantischen Landesteilen, zu denen Hamburg und Lüneburg gehören. Kann Laurer, dessen Zeitschriften zeitweise Auflagen von mehreren Zehntausend erreichen, die Popularität seiner Publikationen auch zahlenmäßig belegen, behauptet ›Kokain‹ seine Popularität tendenziell nur. Die Zeitschrift muss sich auf dem Markt erst etablieren und scheitert schließlich daran. Dass das Vorhaben scheitert, hat maßgeblich mit einem Verbotsprozess zu tun. Dieser geht von einer Beschlagnahmung der dritten Ausgabe von ›Kokain‹ aus. Bis zu dieser wurden die Gegenstände der veröffentlichten Erzählungen und Gedichte immer weiter zugespitzt. Von der ersten Ausgabe an gibt es unter dem Titel »Eigenartige Frauen« eine Fortsetzungsgeschichte über eine lesbische Spionin, in der es immer wieder zu Vergewaltigungen kommt. In der dritten Ausgabe veröffentlicht ›Kokain‹ schließlich je eine pädophile und zoophile Erzählung mit entsprechenden Illustrationen, wobei von ›philos‹ keine Rede sein kann. Auch hier wird sexuelle Gewalt geschildert. Eine weitere Erzählung thematisiert Inzest.
 

Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmt die zweite und dritte Ausgabe, was für einen kleinen Verlag wie Kokain existenzbedrohend ist. Schnell wird eine neue Version der dritten Ausgabe produziert. Viktor Koch verschwindet aus dem Impressum, offensichtlich ist ihm die juristische Beobachtung zu heikel. In einem Editorial verteidigt der Redakteur der Zeitschrift, Fritz Bauer, die inkriminierten Texte als Schilderung der »Wahrheit« des Trieblebens und der menschlichen Natur. Einer der Autoren, deren Texte beanstandet wurden, schreibt einen Text mit dem Titel »Was ist Kunst und was ist Pornographie?«, der wenig Argumente, dafür Verweise auf die – wir sind in Wien – Psychoanalyse und ein Hochkultur-Namedropping (Wedekind, Hauptmann, Schnitzler, Schiele, Rodin, Goethe) liefert. Immerhin: Auch Schnitzler geriet wegen seiner Texte mit der Obrigkeit in Konflikt. Trotz der Angriffslust der beiden rahmenden Texte ist die Ausgabe insgesamt entschärft. Modifiziert werden auch Texte, die gar nicht beanstandet wurden. Der Bruder wird nicht mehr geliebt, man hängt nur noch an ihm. Der Kater ermordet die Frau zwar noch, hat aber keinen Sex mehr mit ihr. Der pädophile Sexualakt wird explizit als Verbrechen bezeichnet. Eine Popularisierung wie im Fall des Robert-Laurer-Verlags blieb trotz des Prozesses aus. Vielleicht auch, weil die Redaktion schnell die abgeschwächte Version veröffentlichte. Die fünfte Ausgabe, deren literarische Texte in ihrer Explizitheit weit hinter den früheren Ausgaben zurückstehen, bleibt die letzte.


Popularität, Popularisierung – Zensur

Bei Zensur handelt es sich um eine umstrittene Praxis der Depopularisierung. Sie problematisiert das, was zumindest so populär geworden ist, dass es zur Anzeige gebracht worden ist. Dadurch, dass Zensur eine juristische Praxis ist, werden die Zeitschriften einem Argumentationszusammenhang unterworfen, der mit dem Argument der bloßen Popularität konkurriert. Anstelle von Auflage- und Verkaufszahlen, anstelle der behaupteten Popularität der Inhalte stehen moralisch-juristische Fragen der Grenzen des guten Geschmacks, der Sittlichkeit und des zu ertragenden. Haben ›Tempo, Lachendes Leben‹ oder ›Die Freude‹ ganz andere Konzepte als ›Kokain‹, so werden sie durch die Jurisdiktion doch an der gleichen Frage gemessen: Ist das Kunst – oder Pornographie? Dass die Antwort in Wien und in Lüneburg unterschiedlich ausfällt, hat gravierende Folgen für das Fortbestehen der Projekte. In einem Fall führt der Versuch der Depopularisierung zur Popularisierung und zustimmenden Leser:innenbriefen, im anderen Fall hat er schlicht Erfolg.

 

Dr. Elias Kreuzmair hat mit der Arbeit ›Pop und Tod. Schreiben nach der Theorie‹ an der Universität Greifswald promoviert. Derzeit ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt »Präfigurationen von Pop in Unterhaltungsmagazinen der 1920er Jahre« im DFG-SFB 1472 »Transformationen des Populären« an der Universität Siegen. Zudem arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur Wissensgeschichte des Lesens.

Text: Dr. Elias Kreuzmair 2024.

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Literatur

Döring, Jörg, Niels Werber, Veronika Albrecht-Birkner, Carolin Gerlitz, Thomas Hecken, Johannes Paßmann, Jörgen Schäfer, Cornelius Schubert, Daniel Stein, Jochen Venus (2021): Was bei vielen Beachtung findet: Zu den Transformationen des Populären. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 6. Jg., H. 2, S. 1–24.

Laurer, Robert (1927): Nacktheit als Verbrechen. Der Kampf um Paragraph 184 StGB im Lüneburger Nacktkulturprozess. Egestorf: Robert Laurer.

Lickhardt, Maren (2024a, i. E.): Aufwertung der großen Zahl. Popularität als quantitative Kategorie im Zeitschriftendiskurs der Weimarer Republik. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 23.

Möhring, Maren (2004): Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890-1930). Köln: Böhlau.

Wedemeyer-Kolwe, Bern (2004): »Der neue Mensch«. Körperkultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Würzburg: Köngishausen & Neumann.

Werber, Niels und Niels Penke (Hg.) (2024): Das nicht mehr Populäre: Phänomene und Prozesse der Depopularisierung. Berlin: Metzler (=LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 54. Jg., H. 1).